Gottesdienst am 10.03.2023, in der Kirche „Zur frohen Botschaft“ mit Vernissage „PASSION“
Pfarrer Edgar Dusdal
Da führten sie Jesus von Kaiphas vor das Prätorium; es war aber früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten. Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen? Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet. Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten. So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der Juden König? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir’s andere über mich gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.
Die Kreuzwegandacht, ist eine „fromme Übung“ in der katholischen und der anglikanischen Kirche, ein vielfach gemeinsam oder einzeln verrichtetes Gebet vor den Kreuzwegstationen. Die Beter gedenken dabei auch der Leidenden der Gegenwart, die ungerecht verurteilt, gefoltert, getötet, ihres Lebensunterhalts beraubt oder verspottet werden. Die Andacht kann zu jeder Zeit gebetet werden, besonders aber an Freitagen, in der Fastenzeit und in der gesamten Karwoche. Der Kreuzweg eignet sich nach katholischer und anglikanischer Auffassung auch für die persönliche Meditation oder Andachten in der Familie. Als Ausdruck für das Beten des Kreuzwegs ist auch „den Kreuzweg gehen“ geläufig.
Anhand der neuen Ausstellung mit Arbeiten des Künstlers Stefan Klausewitz die heute in unserem Foyer eröffnet wird, wollen auch wir uns von dieser Praxis inspirieren lassen.
Jede Zeit besitzt ihre Sprache. Das althochdeutsche ist anders als das mittelhochdeutsche bzw. das neuhochdeutsche. Unsere Wirklichkeit verändert sich, um sie immer wieder neu erfassen zu können, ändert sich auch unsere Sprache. Neue Begriffe, neue Redewendungen kommen hinzu, alte verschwinden. Und manches konserviert die Sprache aus alten Zeiten, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Für jemanden eine Lanze brechen, zu fragen, was er im Schilde führt, oder ihn im Stich zu lassen sind alles Redewendungen aus der Ritterzeit, die wir noch heute verwenden. Sie zeigen uns, in welcher kulturellen Tradition wir stehen. Ähnliches gilt auch für die Malerei.
Jede Epoche besitzt ihre eigene Bildsprache.
Stefan Klausewitz, verwendet Bildsprachen, die unterschiedlichen Zeiten zuzuordnen sind. Er ließ sich von ganz unterschiedlichen Malern inspirieren und schuf daraus seinen eigenen Stil. Damit gelingt es ihm, das unterschiedliche Zeiten gleichzeitig zu uns sprechen.
Die Stimmen derer, die vor uns gegangen sind, sprechen auch aus seinen Bildern.
Die Zeit Albrecht Dürers wie die Pablo Picassos, Hans Baldung Grien wie Ernst Barlach, Mittelalter Renaissance und Moderne treten mit uns durch das Betrachten seiner Bilder gleichzeitig ins Gespräch. Damit erhält der Kreuzweg eine Vielstimmigkeit. Indem ganz unterschiedliche Ästhetiken verknüpft werden, das monochrome eines Hans Baldung Grien, mit dem kubistischen eines Pablo Picasso entsteht eine Überzeitlichkeit, die aus den Bildern spricht. Das Leiden Jesu, das im Kreuzweg, bedacht und reflektiert wird, so sagen uns das die Bilder, war und ist zu allen Zeiten erfahrbar. Und der Kreuzweg lädt, seit seiner Entstehung vor über 800 Jahren dazu ein, meditiert zu werden.
Die Praxis, einen Kreuzweg zu begehen, entstand im 12. Jahrhundert an historischer Stätte, in Jerusalem. Anfangs hielt man beim Kreuzweg nur an zwei Stationen inne, der Verurteilung beim Haus des Pilatus und der Kreuzigung bei Golgatha. Nach und nach entstanden weitere Stationen. Im 14.Jahrhundert fanden in Jerusalem unter der Führung der Franziskaner Prozessionen auf dem Leidensweg Christi für Pilger statt, die diese Andachtsform in ihre Heimatländer brachten.
Seit der Zeit um 1600 wurden Kreuzwege mit insgesamt vierzehn bebilderten Stationen errichtet.
Jede dieser 14 Stationen hat auch Stefan Klausewitz ins Bild gesetzt.
Sparsam ist sein Umgang mit den Bildelementen. Nichts lenkt ab. Auf jedem der Bilder ist Jesus ins Zentrum gerückt. Er füllt den Bildinhalt jeweils fast in Gänze aus. Sein Leiden soll auch uns ganz ausfüllen, im Denken, und Bedenken seiner Schmerzen und Qualen.
Vor sich sehen sie die Darstellung der 10. Station.
Jesus wird seiner Kleider beraubt. Es wird dabei auf folgende Textstelle Bezug genommen „Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los, wer was bekommen solle.“ (Markus 15, 24).
Die auf dem Bild verwendete Frakturschrift, benannt nach dem Drucker Hieronymus Andreae, der sie verwendete, führt uns zurück in die Zeit um 1500, die Sprache des Bildes auch in die Zeit Picassos, genauer in seine kubistische Phase. Picasso erfindet diese Bildsprache gemeinsam mit Georges Braque Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris.
Mit der Erfindung der Fotografie brauchte es zur wirklichkeitsgetreuen Abbildung der Realität nicht mehr der Malerei. Die Malerei war frei von diesem Anspruch und konnte jetzt eigene Wege gehen. Picasso radikalisiert das mit seinem neuen Stil, den man später Kubismus nennen wird. Erkennbar ist die Übernahme von Elementen des Kubismus in unserer Kreuzwegdarstellung durch die Geometrisierung der Körperformen, die Stellung der Augen Jesu, der fast abgehackt wirkenden Figuren sowie ihre fast flächenhafte Wirkung. Es ist dadurch kein direkter Blick auf die Wirklichkeit mehr möglich, er wird durch das Kompositionsschema gebrochen, wie durch die formale Vereinfachung der Körper auf grundlegende Elemente. Dadurch wird der Betrachter/die Betrachterin irritiert. Unsere üblichen Sehgewohnheiten werden nicht bedient. Im Gegenteil. Ein linearer sich erschließender Bildsinn wird sogar verweigert. Auch die Gesetze der Perspektive, wie sie seit der Renaissance Einzug in die Malerei genommen haben, werden außer Kraft gesetzt. Statt dessen Flächigkeit, verknüpft mit einer Multiperspektivität. So als würden wir von unterschiedlichen Blickpunkten aus gleichzeitig auf Jesus sehen. Jesu Gesicht wirkt dadurch deformiert. Die Figuren erlangen etwas holzschnittartiges.
Der Kubismus reagiert auf die Erfahrung des modernen Menschen, der sich als heimatlos, als ortlos erfährt. Und dem sich ein vorgegebener Lebenssinn, nicht mehr erschließt, der vielmehr immer wieder aufs Neue darum ringen muß, dem eigenen Leben einen Sinn abzugewinnen. Der Mensch unserer Zeit hat seine Mitte verloren. Es gibt für ihn nicht mehr die eine Perspektive auf das Weltgeschehen, auf unsere Wirklichkeit.
Um das zu verdeutlichen, um uns das zu spiegeln, wird eine ganz besondere Bildsprache entwickelt. Die Kreuzwegsdarstellungen zeigen uns das. Indem Stefan Klausewitz seine von verschiedenen Vorbildern inspirierte eigene Bildsprache verwendet, macht er deutlich, das alles nur noch Fragment ist. Wie im Kubismus muß ich, um einen Bildsinn zu finden, um erkennen zu wollen, was ist das eigentlich, die Anstrengung unternehmen jedes einzelne Motiv, jedes Bildfragment erst einmal identifizieren, um es dann zu einem sinnvollen Bild zusammensetzen zu können. So ist das oft auch mit unserem Glauben heute. Auch er sperrt sich manchmal dagegen, ein sinnvolles, stimmiges Bild zu ergeben, der alle Fragen beantwortet.
„Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los, wer was bekommen solle.“
Kleider sind, die Kleidung ist unsere zweite Haut.
Kleider machen Leute heißt es. Das ist so, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Mittels unserer Kleidung geben wir uns eine kulturelle und eine individuelle Identität. Seine Mitmenschen nach ihrer Kleidung, ihrem outfit zu bewerten, davon ist niemand frei. Zu Erstbegegnungen gehört der taxierende Blick auf die Kleidung des Gegenüber. Und so mancher Karriereknick hängt hier im wahrsten Sinne des Wortes am seidenen Faden. Es gab viele geschriebene und heute umso mehr ungeschriebene Gesetze darüber, was man wo oder wie tragen darf. Mit meiner Kleidung setze ich Zeichen, ob nun willentlich oder nicht. Werden mir meine Kleider genommen, werde ich ganz auf mein Menschsein reduziert. Status, gesellschaftliche Rolle, alles wird mir mit meiner Kleidung genommen. Es bleibt meine Verletzlichkeit, das Ausgeliefertsein gegenüber den Blicken der Anderen, ihrer Schamlosigkeit.
„Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los, wer was bekommen solle.
Max Beckmann, Jahrgang 1884 wurde zu seinem 100. Geburtstag auch mit einer großen Ausstellung in Leipzig gewürdigt.
Diese Ausstellung war zugleich der Beginn einer immer noch anhaltenden großen Faszination für den Künstler durch Stefan Klausewitz. Eine Faszination, die sich auch darin begründete, das es auch Beckmann mit seiner Bildsprache seinen Betrachtern nicht ganz einfach macht, einen Zugang zu seinen Bildern zu finden.
Wenn in den mittelalterlichen Ateliers junge Lehrlinge den Beruf eines Malers erlernten wollten, dann war es die erste Aufgabe, den Meister in seinen Werken zu kopieren. Für Stefan Klausewitz wurde Max Beckmann zu einem Lehrmeister, den er zu kopieren begann, gerade auch, um einen unmittelbaren Zugang zu seinen Werk und zur malerischen Moderne finden zu können.
Es ist diese Übung, einen Maler zu kopieren, nichts anderes als die religiöse fromme Übung des Nachgehens eines Kreuzweges, einem Kopiervorgang durchaus vergleichbar. Ich trete in die Spuren eines Menschen, um ihm nahe zu kommen. Sei es nun Jesus oder Max Beckmann.
Über Max Beckmann können wir lesen, dass vieles in seinen Bildern unerklärbar bleibt und sich einer Interpretation entzieht. Beckmann, so heißt es, „kann anstrengend sein. Es ist die Kombination aus Genie und fleißigem Arbeiter, aus Visionär und Realist, aus Metaphysiker und belesenem Philosophen, intuitivem Künstler und dem Handwerker, der aus dem Werkzeugkasten seiner Bibliothek genauso schöpft wie aus dem politischen und gesellschaftlichen Tagesgeschehen, die sein Werk so komplex und vieldeutig macht.“
Max Beckmann hatte eine neue Form der Malerei gefunden, die weder impressionistisch noch expressionistisch war, und auch nicht abstrakt. Max Beckmann, belesen, auf seine Art religiös, transzendierte in seinem malerischen Prozess die Wirklichkeit.
Beckmann entwickelt eine ganz eigene Bildsprache, jenseits aller bisherigen Malstile und Malschulen. In dem vor Ihnen liegenden Bild „Christus und Pilatus“ ist sie erkennbar, erkennbar auch weiterentwickelt von Stefan Klausewitz. Es ist die Illustration zu unserem Eingangs gelesenen Evangeliumstext.
Die Körpersprache von Jesus und Pilatus kann nicht unterschiedlicher sein.
Pilatus schiebt seinen massigen Körper von rechts ins Bild. Er bewegt sich entgegen unserer Leserichtung. Er schiebt sich Jesus entgegen. Er ist sein Gegner. Seine runden, satten Körperformen werden von den hageren, ausgezehrten Gesichtszügen Jesu konterkariert. Gegen das satte, die Macht repräsentierende Gesicht, dessen Kinn aggressiv nach vorn geschoben ist, steht das in sich gekehrte Äußere Jesu.
Da die Ohren von beiden sich auf gleicher Höhe befinden, wird der Kontrast ihrer Profile umso deutlicher. Sie repräsentieren zugleich zwei Konzepte von Weltgestaltung und Weltdeutung.
Jesus spricht: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, aber nun ist mein Reich nicht von hier. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
Jesu Königtum ist nicht von dieser Welt, d.h. Es entspricht nicht dieser Welt. Es folgt nicht den Regeln dieser Welt, die auf Ungerechtigkeit und Ausbeutung gründen. Das Reich Jesu ist keine Kopie der Strukturen dieser Welt: Zu seinen Jüngern sagt Jesus deshalb: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.
Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
In das Reich Jesu können wir jederzeit eintreten. Es ist dort, wo sich Menschen in Liebe, Respekt, Solidarität und gegenseitiger Fürsorge begegnen. Dieses Reich braucht keine Grenzen und keine Aufenthaltsgenehmigung. Es kann jederzeit überall neu gegründet werden, da wo Menschen einander als Kinder Gottes begreifen. Dieses Reich gründet auf Liebe und nicht auf staatlicher Macht. Deshalb, weil Jesus ohne diese Macht auskommt, nimmt er diese Position der Ohnmacht ein.
Sie wird spürbar in dieser Begegnung mit Pilatus, dem Repräsentanten des Systems weltlicher Herrschaft, der römischen Militärdiktatur.
Was wir im Bild eingefangen sehen ist die scheinbar beiläufige Episode im Verlauf seines Verhörs durch Pilatus, wo Jesus sagt:
Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.
Darauf Pilatus:
Was ist Wahrheit?
Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.
Darauf Pilatus:
Was ist Wahrheit?
Das Interessante kommt aber erst jetzt: Unmittelbar anschließend heißt es von Pilatus, er sei nach seiner Frage hinausgegangen. D.h. er hat Jesu Antwort erst gar nicht abgewartet. Das gibt denen Recht, die des Pilatus Frage immer schon ironisch verstanden – also gestellt unter der Voraussetzung, dass sie sich ohnehin nicht beantworten lasse. Auf geradezu klassische Weise verleiht Voltaire dieser Lesart des Pilatus-Spruchs Ausdruck. Er schrieb:
Es ist traurig für das Menschengeschlecht, daß Pilatus wegging, ohne die Antwort abzuwarten; wir möchten doch wissen, was das ist, die Wahrheit. Pilatus war zu wenig neugierig.
Und wenig später gibt Voltaire selbst die Antwort, um die er sich durch Pilatus’ Weggang gebracht sieht: Wahrheit, sagt er, sei nichts anderes als ein abstraktes Wort, das die Mehrheit der Menschen ohne Unterschied in ihren Büchern und Urteilen anstelle von Irrtum und Lüge gebrauche.
Voltaire wurde dieser Ansicht wegen vor zweieinhalb Jahrhunderten heftig attackiert. Heute ist im Gefolge von Nietzsche für Viele mehr oder weniger selbstverständlich, dass es sich bei so etwas wie Wahrheit – wenn einer davon redet – um eine Illusion handelt, von der man vergessen hat, dass sie eine ist. Aber genau da verläuft die Grenzlinie zu dem, was den christlichen Glauben ausmacht.
Jesus sagt: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege,
Das sagt Jesus von sich. Er versteht also seine ganze Existenz als ein einziges Wahrheitsgeschehen, d.h. durch ihn – durch das, was er sagt, was er tut, wie er ist – wird etwas bewahrheitet, also wahr gemacht. Und was? Oder anders gefragt: Welche Wahrheit wird da bezeugt?
Übrigens: Im Griechischen, der Sprache des Neuen Testaments, gibt es mehrere Worte für Wahrheit. An dieser Stelle steht das Wort "aletheia", das meint wörtlich, es ist das nicht verborgene, das unverhüllte und deshalb Unvergessene.
Die Wahrheit ist also auch nackt. Und dieser Gedanke knüpft an das erste Bild an, an den entkleideten Jesus.
Jesus legt mit seinem Leben etwas offen. Er entreißt es dem Vergessen. In Aletheia, steckt auch das Wort Lethe. Es ist der Fluß des Vergessens. Aus ihm trinken, die die in den Hades gelangen. Das A- Lethe ist also das nicht vergessene, das eigentlich schon immer gewußte.
Durch Jesus wird offengelegt und immer wieder neu dem Vergessen entrissen, was es heißt, Mensch zu sein.
Das ist das bedürftige Wesen, das der Heilung bedarf, deshalb die vielen Heilungsgeschichten, das Essen braucht, deshalb die Brotvermehrungswunder, das auf Vergebung angewiesen ist, deshalb die Geschichten von Zachäus und der Ehebrecherin, das die Quelle des Lebens benötigt, für die Gottes Wort steht.
Das ist die Wahrheit, für die Jesus mit Leib und Leben Zeugnis gibt.
Im Hintergrund des Pilatus sehen wir die Himmelsleiter Jakobs angedeutet. Es ist das ein von Beckmann immer wieder verwendetes Symbol. Dort im Himmel wartet auf uns die ganze Wahrheit.
Die Geschichte von Jesus und Pilatus spiegelt sich auch in folgender Begebenheit, mit der ich schließen möchte.
Helmuth James Graf von Moltke musste sich am 10. Januar 1945 vor dem Volksgerichtshof unter Leitung des berüchtigten Roland Freisler verantworten. Die Anklage lautete auf Hochverrat. Es ist die gleiche Anklage, der sich auch Jesus gegenüber sah.
Von Moltke hatte ein Widerstandsnetz gegen die Nazis mit aufgebaut. Er hatte das aus seiner tiefsten Überzeugung als evangelischer Christ getan. Auf die Anklagepunkte antwortete in einer Ruhe und Bestimmtheit, dass der Vorsitzende Freisler Tobsuchtsanfälle bekam.
In einem Brief an seine Frau, den er herausschmuggeln konnte schrieb er: Ein Orkan brach los: (Freisler) hieb auf den Tisch, lief an so rot wie seine Robe und tobte ... Da ich ohnehin wußte, was rauskam, war mir das alles ganz gleich: ich sah ihm eisig in die Augen, was er offenbar nicht schätzte, und plötzlich konnte ich nicht umhin, zu lächeln.
Da ist die Hoheit aus der johanneischen Passionsgeschichte, die gleichwohl ihre Ohnmacht nicht unterschlägt. – „Ob ich wohl ein wenig überkandidelt bin?, schreibt von Moltke weiter. Denn ich kann nicht leugnen, daß ich mich geradezu gehobener Stimmung befinde ... Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, daß das hysterisch klingt: ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die zwei Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht“.
In dunklen Zeiten erinnert Moltke an das, was nicht in Vergessenheit geraten darf, die unverborgene Wahrheit.
Da ist die Hoheit aus der johanneischen Passionsgeschichte, die gleichwohl ihre Ohnmacht nicht unterschlägt. – „Ob ich wohl ein wenig überkandidelt bin?, schreibt von Moltke weiter. Denn ich kann nicht leugnen, daß ich mich geradezu gehobener Stimmung befinde ... Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, daß das hysterisch klingt: ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die zwei Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht“.
In dunklen Zeiten erinnert Moltke an das, was nicht in Vergessenheit geraten darf, die unverborgene Wahrheit.
Das Lebenszeugnis eines 37jährigen, der glücklich verheiratet und Vater zweier kleiner Söhne ist. In seinem Lebenszeugnis spiegelt sich die Wahrheit, für die Jesus ans Kreuz ging. Die Wahrheit, die die scheinbar Mächtigen der Welt gar nicht hören wollen und die eben darum umso mächtiger ist und buchstäblich das Oberste zu unterst kehrt.
Im Gedächtnis des Leidens und Sterbens Jesu vergewissern wir uns dessen, was uns über die Abgründe zu tragen vermag. Es ist die Wahrheit, von der Jesus Zeugnis ablegt und der uns hager mit tiefliegenden Augen im Bild begegnet.
Edgar Dusdal ist evangelischer Theologe und seit vielen Jahren Pfarrer in Berlin-Karlshorst. In der DDR engagierte er sich in der Opposition und im Neuen Forum. Seine Predigten und Texte verbinden geistliche Reflexion mit gesellschaftskritischem Denken.